Europas Umwelt am Scheideweg?

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Die Umweltpolitik der letzten 40 Jahre in Europa macht sich bezahlt, so die Aussage des aktuellen Berichts zur Lage der Umwelt. Das Problem ist nur: Für die Zukunft sind die Aussichten keineswegs rosig. Das gilt auch für die Abfallwirtschaft, die allerdings in der Studie noch am besten wegkommt.

Dem Patienten geht es den Umständen entsprechend, heißt es gerne mal im Medizinerjargon. Ähnliches kann man auch über den Zustand der Umwelt in Europa sagen. In ihrem aktuellen Bericht „Die Umwelt in Europa – Zustand und Ausblick 2015“ legt die Europäische Umweltagentur (EUA) einen umfassenden Statusbericht vor. Das sehr verkürzte Fazit: Zwar haben viele Maßnahmen der letzten Jahre gegriffen, insgesamt gibt es aber in vielen Bereichen noch Nachholbedarf. Und die ehrgeizigen Ziele der EU bis 2050 sind laut EUA mit den bestehenden Rahmenbedingungen und Maßnahmen nicht zu erreichen.

Die alle fünf Jahre erstellte Studie der EUA sieht sich dabei zeitlich in der Mitte zwischen den Anfängen der Umweltpolitik vor etwa 40 Jahren und dem Ziel der europäischen Umweltpolitik, da im 7. Umweltaktionsprogramm von 2013 festgelegt wurde: „Im Jahr 2050 leben wir gut innerhalb der ökologischen Belastbarkeitsgrenzen unseres Planeten.“

Dementsprechend blickt die EUA sowohl auf das Erreichte zurück, gibt aber gleichzeitig einen Ausblick auf die Herausforderungen, die zum Erreichen des Ziels 2050 gemeistert werden müssen. Der Rückblick fällt dabei eigentlich recht positiv aus. Umwelt­ und Klimastrategien hätten substanzielle Verbesserungen für die Umwelt sowie für die Gesundheit und den Lebensstandard der EU­-Bürger gebracht. „In großen Teilen Europas und in vielen verschiedenen Bereichen der Umwelt hat sich die unmittelbare Situation verbessert. Für viele von uns ist die uns umgebende Umwelt heute in einem so guten Zustand wie vor der Industrialisierung unserer Gesellschaft“, heißt es in dem Report. Darüber hinaus betontdie EUA die wirtschaftlichen Erfolge der Umweltpolitik.

Gleichzeitig weist die Studie aber auch warnend darauf hin, dass es zwar viele positive Trends gebe, die langfristigen Aussichten aber deutlich schlechter seien. Auch regionale Unterschiede gelte es zu beachten. „Dennoch geben die lokalen Umwelttrends in vielen Fällen weiterhin Anlass zur Besorgnis, häufig aufgrund einer unzureichenden Umsetzung der vereinbarten politischen Maßnahmen.“ Zudem weist die Studie darauf hin, dass viele politische Maßnahmen einen deutlich höheren Einfluss auf die Verbesserung der Ressourceneffizienz als auf die natürlichen und sozialen Systeme hätten.

Erschwerte Bedingungen

Dabei haben sich zumindest die ökologischen Herausforderungen laut EUA in den letzten zehn Jahren nicht wesentlich verändert. Nach wie vor stünden der Klimawandel, der Biodiversitätsverlust, die nicht nachhaltige Nutzung von Ressourcen und die Auswirkungen von Umweltbelastungen auf die Gesundheit im Mittelpunkt. Geändert haben sich allerdings die Rahmenbedingungen für diese Herausforderungen. Während sich politische Lösungsansätze oft immer noch auf einzelne Aspekte fokussierten, seien die Probleme längst deutlich komplexer geworden. „Die Herausforderungen sind sowohl systemischer als auch kumulativer Art und hängen nicht nur von unserem Handeln in Europa, sondern vielmehr von ihrem globalen Kontext ab. Viele der ökologischen Herausforderungen von heute zeichnen sich durch ihre Komplexität aus. Sie sind schwer voneinander abzugrenzen oder klar zu definieren, da sie in verschiedenen Teilen der Umwelt und der Gesellschaft in vielerlei Weise anzutreffen sind.“ Genau hier sieht die Studie das große Problem: bei der „Bewältigung langfristiger, systemischer ökologischer Herausforderungen“.
Dabei definiert die Studie drei systemische Merkmale, die alle ökologischen Herausforderungen heute gemeinsam haben:

  • das direkte oder indirekte Ausgesetztsein gegenüber Umweltfaktoren, die die Gesundheit und den Lebensstandard gefährden,
  • die untrennbare Verknüpfung mit unseren Ressourcennutzungs­- und Verbrauchsmustern und
  • die Abhängigkeit von globalen Megatrends.

Vor allem Letztere haben laut EUA einen massiven Einfluss auf die Umwelt und ihre weitere Entwicklung. Zu diesen Megatrends gehören unter anderem die Bevölkerungsentwicklung, die Urbanisierung, beschleunigte technologische Veränderungen, eine zunehmend multipolare Welt, ein verschärfter Wettbewerb um Ressourcen und die Folgen des Klimawandels. Diese Megatrends machen nach Ansicht der EUA den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und dem Zustand der Umwelt deutlich. „Wir müssen sicherstellen, dass die Umwelt genutzt werden kann, um materielle Bedürfnisse zu erfüllen, dass sie aber gleichzeitig auch ein gesundes Lebensumfeld bietet.“

Kernthema Ressourcen

Die Studie betrachtet im Folgenden die drei Kernbereiche, auf die sich die EU in Bezug auf die Ziele 2050 fokussiert, im Detail:

  • Schutz des natürlichen Kapitals, das den wirtschaftlichen Wohlstand und das Wohlergehen der Menschen unterstützt;
  • Förderung einer ressourceneffizienten, kohlenstoffarmen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung;
  • Schutz der Menschen vor umweltbedingten Gesundheitsrisiken.

Die Abfallwirtschaft ist eines von sieben Themen des zweiten Kernbereichs. Den Bereich der Ressourceneffizienz und einer kohlenstoffarmen Wirtschaft sieht die EUA als eine neue Priorität der europäischen Politik, da man erkannt habe, dass das vorherrschende Modell der wirtschaftlichen Entwicklung nicht langfristig aufrechtzuerhalten sei. Allerdings macht die Studie auch klar, dass Ressourceneffizienz alleine nicht ausreichend ist, da sie keine Senkung der Umweltbelastung garantiert. Vielmehr sei eine absolute Entkopplung von Produktion und Ressourcennutzung notwendig. Hier sei unter anderem der Wechsel vom linearen Wachstumsmodell „Nehmen, Herstellen, Verbrauchen, Entsorgen“ hin zur Kreislaufwirtschaft eine wichtige politische Zielsetzung.

Erfolg in der Abfallwirtschaft

Die Abfallwirtschaft bekommt in der Studie im Vergleich zu vielen anderen Bereichen relativ gute Noten. Der Anstieg des Recyclings von Siedlungsabfällen von 22 Prozent auf 29 Prozent zwischen 2004 und 2012 wird als „eine der Erfolgsgeschichten der Umweltpolitik in Europa“ bezeichnet. Auch das Aufkommen von Siedlungsabfällen ist in diesem Zeitraum um 1 Prozent gesunken. Dies ist jedoch kein einheitlicher Trend über alle Länder hinweg. Zugleich ist eine Entkopplung der gewerblichen und privaten Abfallentstehung zu erkennen, denn das gesamte Abfallaufkommen ohne mineralische Abfälle sank im gleichen Zeitraum um 7 Prozent. Auch bei der Deponierungsmenge zeigten die politischen Maßnahmen nach Auffassung der EUA Wirkung: 2012 wurden noch 22 Prozent des Gesamtabfallaufkommens (ohne Mineral-­, Verbrennungs-­, Tier-­ und Pflanzenabfälle) deponiert. 2004 waren es noch 31 Prozent gewesen. Ein klarer Zusammenhang besteht für die EUA zwischen den steigenden Recycling-­ und den sinkenden Deponierungsquoten. Die meisten Länder würden Fortschritte dabei machen, sich in der Abfallhierarchie weiter nach oben zu bewegen, heißt es in der Studie.

Auch Produktion und Konsum waren laut Studie in den letzten Jahren weniger abfallintensiv, selbst unter Berücksichtigung der Finanzkrise von 2008. Das Abfallaufkommen in der Produktion sank in der EU-­28 und Norwegen zwischen 2004 und 2012 um 25 Prozent, obwohl der wirtschaftliche Output im gleichen Zeitraum um 7 Prozent zunahm. Ähnliches gilt für den Dienstleistungsbereich, wo das Abfallaufkommen um 23 Prozent sank, bei einem Wirtschaftswachstum in diesem Sektor um 13 Prozent. Auch die Konsumenten waren zurückhaltender. In den Staaten der europäischen Wirtschaftsunion ging das Aufkommen der Siedlungsabfälle um 2 Prozent zurück, während die Ausgaben um 7 Prozent stiegen.

Deutliche Einsparungen

Doch auch darüber hinaus ist der Beitrag der Abfallwirtschaft zum Umweltschutz bemerkenswert. Nach Schätzungen der EUA sollen sich die vermiedenen Netto­Treibhausgasemissionen durch die verbesserte Siedlungsabfallbewirtschaftung im EU-­27-­Raum, der Schweiz und Norwegen im Zeitraum von 1990 bis 2012 jährlich auf den Gegenwert von 57 Millionen Tonnen CO2 belaufen. Hauptfaktoren dafür seien reduzierte Methanemissionen von Deponien sowie die durch Recycling vermiedenen Emissionen. Dennoch sieht die Studie durchaus noch Luft nach oben: Durch bessere Technologien und Infrastrukturen sowie höhere Recycling­quoten würden sich die Umweltbelastungen und die Abhängigkeit Europas von Ressourcenimporten noch weiter senken lassen. Allerdings sieht die EUA auch die Gefahr durch Kapazitätsüberhänge bei Verbrennungsanlagen, die den Wettbewerb für das Recycling erschweren. Zwar sieht die EUA vor allem die EU­ und nationale Politik als wesentliche Treiber dieser Verbesserungen, weist aber auch ausdrücklich auf die Bedeutung der regionalen und lokalen Politik für die Abfallwirtschaft hin. Nicht umsonst betont die Studie, dass Länder mit höheren Recyclingquoten eine höhere Bandbreite von Maßnahmen und Instrumenten nutzen als Länder mit schwächeren Quoten. Um Abfall tatsächlich nachhaltig zu einem Wertstoff zu machen, sei die entsprechende Umsetzung aller rechtlichen Maßnahmen notwendig. Vor allem müssten Barrieren für das Recycling abgebaut und die Deponierung nur auf nicht verwertbare Abfälle beschränkt werden. Zudem seien eine Verbesserung der Datenerfassung und eine Harmonisierung der nationalen Statistiken dringend notwendig. Und natürlich weist die EUA darauf hin, dass für eine Verbesserung von Abfallvermeidung und ­-bewirtschaftung Maßnahmen im gesamten Produktlebenszyklus notwendig seien.

Trotz des Lobs für die Abfallwirtschaft fehlt aber auch hier nicht ein warnender Hinweis für die zukünftige Entwicklung: „Trotz der erzielten Fortschritte bei der Abfallvermeidung und ­-bewirtschaftung bleibt das Abfallaufkommen der EU immens, und die Leistung im Vergleich zu den politischen Zielen ist nicht einheitlich. Die Abfallbewirtschaftung muss noch radikal überarbeitet werden, um die Deponierung wiederverwertbarer oder rückgewinnbarer Abfälle vollständig zu vermeiden. Außerdem werden viele EU­-Mitgliedstaaten beträchtliche Anstrengungen unternehmen müssen, um das Ziel von 50 Prozent Recycling für manche Siedlungsabfallströme bis 2020 erreichen zu können.“

Umdenken ist notwendig

Die politischen Maßnahmen der letzten 40 Jahre hatten laut EUA deutlichere Auswirkungen auf die Verbesserung der Ressourceneffizienz als auf die verbesserte Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme. Die verringerten Umweltbelastungen, die das Ergebnis einer besseren Ressourceneffizienz sind, konnten sich noch nicht in einer ausreichenden Reduktion der Umweltauswirkungen oder einer gesteigerten Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme niederschlagen. Daher fällt auch der langfristige Ausblick der Studie deutlich pessimistischer aus als die Einschätzung kurzfristiger Entwicklungen. Dafür werden folgende Gründe genannt:

  • Trotz erzielter Verbesserungen bleiben die Umweltbelastungen beträchtlich.
  • Aufgrund der Komplexität der Umweltsysteme kann es zu deutlichen Zeitverzögerungen zwischen der Verringerung von Belastungen und der Veränderung des Umweltzustands kommen.
  • Externe Belastungen, die vor allem durch die globalen Megatrends, aber auch durch Entwicklungen in anderen Sektoren wie Verkehr, Landwirtschaft und Energie verursacht werden, können den Umweltschutzmaßnahmen entgegenwirken.
  • Effizienzverbesserungen, die aufgrund technischer Innovationen erreicht werden, können durch Veränderungen der Lebensweise oder einen erhöhten Verbrauch wieder untergraben werden (Rebound-Effekt).
  • Veränderte Belastungsmuster und erhöhte menschliche Anfälligkeiten können die Vorteile der gesenkten Gesamtbelastung verringern oder sogar vollständig aufheben.

Hinzu kommen laut Studie Lücken in allen relevanten Bereichen: beim Wissen, in der Politik und vor allem bei der Implementierung. „Im Bereich der Umweltpolitik bestehen mehr offene Vertragsverletzungsverfahren als in jedem anderen EU-Politiksektor. Die Kosten, die durch die nicht erfolgende Umsetzung der Umweltmaßnahmen verursacht werden, seien hoch und lägen bei schätzungsweise 50 Milliarden Euro pro Jahr, heißt es in der Studie. Der hohe Grad an Komplexität, den der Umweltschutz erreicht hat, macht deutlich, dass weder die Umweltpolitik noch einzelne ökonomische oder technische Effizienzziele ausreichen werden, um die Vision 2050 umzusetzen. Andere Ansätze, vor allem in Politik und Innovation, aber auch in unserer Denkweise sind dafür dringend notwendig.

„Der Übergang zu einer umweltfreundlichen Wirtschaft ist ein langfristiger, multidimensionaler und grundlegender Vorgang, für den wir uns vom aktuellen linearen Wirtschaftsmodell ‚Nehmen, Herstellen, Verbrauchen, Entsorgen‘, das von großen Mengen leicht verfügbarer Ressourcen und Energien abhängig ist, wegbewegen müssen. Dies wird tief greifende Änderungen bei den marktbeherrschenden Institutionen, Praktiken, Technologien, Maßnahmen, Lebensweisen und Denkmustern erfordern.“

Autor

Michael Brunn ist Chefredakteur des RECYCLING Magazins. Der Artikel erschien erstmals im RECYCLING magazin 06 | 2015. Michael Brunn per E-Mail: michael.brunn@recyclingmagazin.de

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